Eine Fotografie ist mehr als was sie zeigt!
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
der Satz mag Sie verwundern, denn was soll da „Mehr“ sein? Es ist eine Frage, die viele Fototheoretiker beschäftigt hat. Im Grunde eigentlich alle. Sie wussten, dass da mehr ist, und dass jene Kritik ins Leere geht, die behauptet, eine Fotografie sei seelenlos, da sie im Gegensatz zum Gemälde nur dupliziere, was ohnehin zu sehen sei. Wir werden am Beispiel von Tobias Kerns Bildern dieses „Mehr“ von zwei Seiten beleuchten.
Schauen wir zunächst auf die Bilder der Serie „Wissende Heiterkeit“ und schauen wir auf das, was sie zeigen: Auffallend ist ein Weg, der sich meist dominant, manchmal aber auch etwas versteckt zwischen Feldern, Wiesen und Waldrand dahinzieht. Der Weg befindet sich zwischen dem Schloss Meßkirch und einem nahegelegenen Waldstück. Die Aufnahmen verweisen auf unterschiedliche Aufnahmezeitpunkte. Mal winden sich die Pflanzen soeben aus der Scholle, mal steht die Frucht vor der Ernte, dann wieder sind die Wiesen gemäht oder der Winter deckt sein weißes Kleid über sie. Die Himmel reichen von mächtigen Wolkenformationen über graue, triste Vorhänge bis zu wolkenlosem Blau, was selten vorkommt. Bis auf silhouettenhafte Erscheinungen sind keine Personen in den Bildern zu sehen.
All das, was wir sehen, sind ansprechende Bilder über einen Feldweg und sein Umfeld, ein Motiv somit, das man an vielen Stellen in Oberschwaben finden kann. Nichts Ungewöhnliches, nichts Hervorhebenswertes, wäre da nicht eine Besonderheit, die mit diesem Weg in Verbindung steht, nämlich Martin Heidegger (1889- 1976). Dem bekannten und umstrittenen Philosophen war der Weg, damals noch ungeteert und Bichtlinger Sträßle genannt, von Kindesbeinen an vertraut. Sein Leben lang blieb er ihm eine beliebte Wegstrecke. 1949, im Alter von 60 Jahren, hat er ihn in dem Essay „Der Feldweg“ gewürdigt und verewigt. Doch ist etwas von dem Philosophen auf die Bilder hier übergegangen? Sicherlich wäre es Unfug anzunehmen, dass die ehemaligen Fußtritte Heideggers, Reliquien gleich, eine Aura geschaffen hätten, die, wenn wir nur genau genug hinschauten, in den Bildern wiederfinden könnten.
Es ist ja heutzutage modern, auf den Spuren ehemaliger Geistesgrößen zu wandeln. Man denke nur an den Königsberger Fotografen Fridhelm Volk, der von 1996 bis 1998 auf seiner Reise von Sachsen nach Syrakus der Route Johann Georg Seumes (1763-1818) folgte und dabei Stimmung und Atmosphäre der Landstriche einfing, die der Dichter zweihundert Jahre vorher durchwandert hatte. Oder bleiben wir in der Nähe, bei Thomas Knubben, dem früheren Ravensburger Kulturreferenten und heutigen Professor an der Hochschule Ludwigsburg. Er begab sich 2007 auf die von Friedrich Hölderlin (1736–1772) im Jahr 1801 zurückgelegte Strecke von Nürtingen nach Bordeaux und veröffentlichte seine schriftlichen und fotografischen Eindrücke in dem Buch „Hölderlin. Eine Winterreise“ (2012). Es geht diesen „Nachläufern“ weniger um eine historische Authentizitätsprüfung, als vielmehr darum, eine Art Initiationserlebnis zu reproduzieren, eine Second-Hand- Sinnsuche, wenn Sie wollen, oder dem Ursprungwanderer näher zu kommen. Ich zweifle an dem Erfolg, doch ich denke, es sind bestimmt bereichernde Wanderungen.
Zurück zu Kern: Es geht hier also nicht um eine Fernübertragung philosophischer Kraft über Raum und Zeit. Es geht vielmehr um Heideggers Text von 1949, der in enger Beziehung zu Kerns Fotografien von 2013 steht. Was Heidegger in seiner kurzen Abhandlung „Der Feldweg“ schreibt, ist eine fundamentale Zivilisationskritik. Der Weg und seine Umgebung, die Bäume, Äcker und Bänke sprechen zu Menschen, die „in seiner Luft geboren, ihn hören können“ (S. 4) und eröffnen ihnen, das im „Einfachen“ das „Rätsel des Großen“ verwahrt ist. Aus der „Langsamkeit und Stete“, (S. 3), mit der die Eiche wächst, ergibt sich die Bedeutung von Wachstum, ich zitiere: „der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkel der Erde wurzeln“ (S. 3) Zitat Ende. Das Große im Kleinen sehen, würden wir heute vielleicht sagen. Und natürlich würde man heute, in unserer globalisierten Welt, den Philosophen fragen, wie weit diese Luft reicht, in die man hineingeboren sein muss. Aber lassen wir dies auf sich beruhen.
Interessanter für uns ist, dass Heidegger diesem meditativen Zug die Gefahr gegenüberstellt, dass die aus seiner Sicht Heutigen immer weniger diese Stimme des Weges hören und damit die „einfachen Dinge“ für sie einförmig werden, und die Menschen dieser einfachen Dinge somit überdrüssig. Und er nimmt die Atomenergie als Beispiel dafür, wie die Rechenkünste der Menschen eine Kraft erschließen, die dann zu ihrer Fessel wird.
Als 2011 der Reaktor in Fukushima losbrach, war es Heideggers Kritik an der Atomkraft, die Kern eine konkrete Idee für ein Foto-Projekt lieferte. Kern ist wie Heidegger in Meßkirch geboren und besuchte als Schüler das den Namen des Philosophen tragende Gymnasium unweit des Feldweges. Schon lange überlegte er, wie er die Erfahrungen seiner Jugend mit den Mitteln der Fotografie zum Ausdruck bringen könne. In intimer Kenntnis des Weges und in Anlehnung an Heideggers Beschreibungen, begann er den Feldweg zu fotografieren und schuf fünfundzwanzig nuancierte Ansichten davon. Das Ergebnis der konzeptuellen Arbeit gleicht einer Spurensicherung, in der der Künstler nach langen Jahren der Abwesenheit von Meßkirch mit wirklichkeitsnahen Bildern Jugenderinnerungen und Heimatverbundenheit thematisiert.
Behutsames Arbeiten war eines der Kriterien bei der Projektumsetzung, weshalb Kern die Aufnahmen mit einer großen Studiokamera und Stativ fotografierte. Wer mit einer Fachkamera gearbeitet hat, weiß, wieviel Geduld es erfordert, bis ein Bild sich hinter dem schwarzen Tuch aufbaut. Im Ausgleich dafür erlaubt sie ein konzentrierteres Arbeiten mit sorgfältiger Standortwahl und eine stärkere Kontrolle beim Bildaufbau. Mit waagerecht ausgerichteter Kamera, einem leichten Weitwinkelobjektiv hat er den Horizont jeweils in die Mitte gesetzt, was den Bildern Ausgewogenheit und der Serie eine Klammer gibt und Textstellen, wie der oben schon erwähnten Weite des Himmels und dem Dunkel der Erde Ausdruck verleiht. Schilderungen Heideggers wie Zitat: „Dieselben Äcker und Wiesenhänge begleiten den Feldweg zu jeder Jahreszeit mit einer stets anderen Nähe“ (S. 3) oder „In der jahreszeitlich wechselnden Luft des Feldweges gedeiht die wissende Heiterkeit, deren Miene oft schwermütig scheint“ Zitat Ende (S. 5) leiten Kerns Suche nach Bildern und lassen das Projekt, da er Bilder aus allen Jahreszeiten benötigt, auf eine Umsetzungszeit von 2 Jahren anwachsen. Wichtig war Kern auch die Konzentration auf das Wesentliche der Landschaft, er entschied sich deshalb für die Abstraktion durch den Schwarzweißfilm. Sowohl bei der Aufnahme wie auch bei der Vergrößerung benutzte er die traditionelle, doch zeitintensive analoge Technik.
Tobias Kern ist 1963 geboren. Nach dem Besuch einer Fotofachschule absolvierte er von 1986 bis 1988 eine Fotografen-Ausbildung mit den Schwerpunkten Architektur-, Industriephotographie, Audiovision und Film in Stuttgart. 1989 übersiedelte er nach Köln und studierte dort Theater- Film- und Fernsehwissenschaften sowie Kunstgeschichte. Kern arbeitet als freier Fotodesigner, ist aber ebenso tätig als geschäftsführender Gesellschafter der Agentur „Atelier für Mediengestaltung“ und als Galerist der „schaelpic photokunstbar“, für die er jährlich mehrere Ausstellungen realisiert. Auch sein fotografisches Schaffen ist breitgefächert. In seiner freien künstlerischen Fotografie ist seine Arbeit über traditionelle Kaffeehäuser hervorzuheben. Seine Aufnahmen basieren meist auf großen Negativformaten von 6 x 7 bis 20 x 25 Zentimetern. Die Abzüge erstellt er selbst in der Dunkelkammer. Kern ist Mitglied im Berufsverband FreeLens und der Deutschen Gesellschaft für Photographie.
Bei den Wegbildern gelangt das eingangs erwähnte „Mehr“ vermittelt durch den Blick des Künstlers in die Bilder. Die Bezüge zwischen Kerns Bildern und Heideggers Text kann man natürlich nur suchen und finden, wenn man den Text kennt. In früheren Ausstellungen wurde der Inhalt während der Eröffnung vorgetragen. Das machen wir heute nicht, der Essay ist aber hier zum Nachlesen für Interessierte ausgelegt.
Wenden wir uns nun dem zweiten Teil dieser Ausstellung zu, der sich auf der Außenwand links von mir befindet. „Stigmata“, so der Titel des Zyklus‘, zeigt forstwirtschaftliche Zeichen auf Baumstämmen. Es sind Symbole, die vermutlich jeder schon gesehen hat und ebenso vermutlich jeder kaum versteht.
Für den Fall, dass Sie, ebenso wie ich vor einiger Zeit, nichts mit diesen Zeichen anzufangen wissen, möchte ich Sie etwas aufklären. Es gibt im Wesentlichen vier Zeichen. Ein Z steht für einen Baum mit Zukunft; das ist ein Baum, der gesund ist und weiterwachsen soll. Die Zeichen sind regional verschieden. Ein dicker weißer Punkt oder ein weißes Band haben dieselbe Bedeutung wie ein Z. Dann gibt den Querstrich. Das ist der Störenfried, ein Baum, der einem Z-Baum Licht und Luft zum Gedeihen nimmt und der Kettensäge zum Opfer fallen wird. Als drittes findet man Markierungen wie großgeschriebene Hs oder farbige Schlangenlinien. Damit verweist man auf einen Baum, der ökologisch wertvoll ist, zum Beispiel, weil Vögel darin nisten. Er wird ebenfalls erhalten und darf durch das Fällen anderer Bäume nicht beschädigt werden. Und zuletzt sei noch das „R“ erwähnt, das für Rückeweg steht, das ist ein Weg, auf dem früher die Rückepferde und heute die Traktoren das abgeschlagene Holz abtransportieren dürfen.
Was, meine Damen und Herren, passiert nun, wenn diese Zeichen auf Bäumen im Wald stehen? Der Wald, und besonders der deutsche Wald, ist ja bekanntermaßen keine bloße Ansammlung von Bäumen. Er ist eine höchstmythische Angelegenheit, die seit Jahrhunderten tief mit der deutschen Volksseele verbandelt ist. Der Einsamkeit, dem Märchenhaften des Waldes widmeten sich Romantiker wie der große Maler Caspar David Friedrich. Es klingt vielleicht ein wenig belustigend, es ist aber höchst real. Allein das Wort „Waldsterben“ hat in Deutschland im letzten Jahrhundert zu einem Umdenken beigetragen, was unser Verhältnis zur Natur betrifft. Der heute so verbreitete Begriff „Nachhaltigkeit“, der ursprünglich der Forstwirtschaft entspringt und bis in frühe 18. Jahrhundert zurückreicht, hat einer politischen Partei Pate gestanden, die in diesen Wochen in unserem Bundesland zur stärksten Partei anwachsen könnte. Nur am Rande sei angemerkt, dass es ein Begriff ist, von dem nicht sicher ist, ob er jenseits der Forstwirtschaft, eine andere, als ideologische Bedeutung hat.
Deutscher Wald ist Mythos pur. Und auf den Bäumen sind Zeichen angebracht, die man nicht versteht. Diese Zeichen können den Eindruck des Mythischen verstärken, das legt der Name der Serie Stigmata, jedenfalls nahe. Doch ist dies nicht die einzig mögliche Sicht. Der Hinweis auf die forstwirtschaftliche Nutzung kann auch die romantisierende Sicht auf den Wald brechen und auf einen Widerspruch hinweisen. Durch diese kleinen Zeichen kann sich ein nagender Zweifel Bahn brechen, ob die Menschheit bei ihrer Vereinnahmung des Planten nicht auf dem Holzweg ist. Oder, um es mit Heideggers Worten zu sagen: Zitat: „Der Mensch versucht vergeblich, durch sein Planen den Erdball in eine Ordnung zu bringen, wenn er nicht dem Zuspruch des Feldweges eingeordnet ist. […] Ihnen fällt nur noch der Lärm der Apparate, die sie fast für die Stimme Gottes halten, ins Ohr. So wird der Mensch zerstreut und weglos.“ (S. 4f) Zitat Ende.
Die Zeichen können den Mythos des Waldes verstärken oder zerstören. Damit haben wir den zweiten Teil des „Mehr“ benannt, was eine Fotografie über das nur Abgebildete hinaus ausmacht. War das „Mehr“ bei den Wegbildern, die Motivation und Zielsetzung des Fotografen, ist das „Mehr“ bei den Baumbildern, das Auge des Betrachters, also Ihres. Fotografie ist Kommunikation. In diesem Sinne sollten Sie die Bilder auf sich wirken lassen und von der Möglichkeit Gebrauch machen, mit dem Künstler selbst ins Gespräch zu kommen.
(Zitate aus: Martin Heidegger: Der Feldweg, Vittorio Klostermann, Ffm, 11. Augl. 2006)
© Dorothea Cremer-Schacht, Konstanz 2016