Stigmata – Anmerkungen von Martin Frech
Der durchschnittliche deutsche Großstadtbewohner geht etwa zweimal im Jahr im Wald spazieren. Das ergab eine Umfrage von 1990. Ob sich das Waldverhalten des Großstädters in den letzten 20 Jahren gewandelt hat, weiß ich leider nicht. Tobias D. Kern war jedoch ganz sicher öfters im Wald – und hat bei seinen Spaziergängen die Motive für seine hier gezeigte Fotoserie gefunden.
Er hat Baumzeichen gesammelt: Jene aufgesprühten Markierungen, die Förster als Hinweise für die Waldarbeiter an den Bäumen anbringen. Wir Freizeit-Waldnutzer wissen nicht genau, was diese Zeichen bedeuten. Aber klar ist: Die signalfarbig grell markierten Bäume sind nicht nur einfach gekennzeichnet – sie sind stigmatisiert.
Bäume sind Lebewesen; aber auch Rohstoff im systematisch optimierten Nutzwald. Sind Bäume unsere Sklaven? Können wir die Baumzeichen vergleichen mit den Stigmata der altrömischen Sklaven, also den Verletzungen, mit denen diese als Strafe für schwere Verbrechen gebrandmarkt wurden? Jedenfalls sind die stigmatisierten Bäume selektiert. Die Zeichen bestimmen, welche Bäume gefällt werden und welche stehen bleiben; sie markieren aber auch Wege für die schweren Fahrzeuge der Waldarbeiter oder sie informieren über Schädlingsbefall.
Tobias D. Kerns Bilder gehen jedoch deutlich über das Dokumentarische hinaus. Das Erleben der Baumzeichen in der Einsamkeit seiner Waldbesuche hat bei ihm eine romantische Saite zum Schwingen gebracht. Fast scheint es, als hätten die vordergründig zu rein praktischen Zwecken angebrachten Markierungen bei ihm Erinnerungen aus unserem kollektiven Unterbewusstsein hervorgerufen. Erinnerungen an unsere traditionellen Mythen und Sagen. Kerns Bilder sprechen etwas an, was häufig als ein spezifisch deutsches Phänomen beschrieben wird. Die Deutschen sind ja das Waldvolk par excellence – das behaupten jedenfalls Volkskundler, die mit diesem Thema befasst sind. Interessanterweise hat das jedoch nichts damit zu tun, dass wir etwa besonders häufig im Wald wären, oder den Wald besonders intensiv nutzen würden. Auch sind die allgemeinen Kenntnisse über den Wald wohl eher gering – das legen jedenfalls entsprechende Umfragen nahe. Meine kritische Selbstdiagnose bestätigt diesen Befund.
Unsere diagnostizierte Waldbegeisterung ist also vielmehr eine Kopfsache – eine kulturelle Prägung, die dem Wald die Rolle einer Kulisse zuweist. Der einzelne Baum oder andere Wald-Details sind uns dabei nicht so wichtig. Erfunden wurde dieser Wald-Mythos vor gerade einmal 200 Jahren; in der Zeit der Romantik. Damals verloren die Intellektuellen das Interesse an den klassischen Vorbildern aus der Antike. Sie interessierten sich verstärkt für ihre eigene Kultur: Märchen, Volkslieder und mittelalterliche Sagen kamen wieder in Mode. Die Romantik war eine Gegenbewegung zur Aufklärung und zum Klassizismus. Gegen Vernunft und Rationalismus wurden Gefühl, Individualität und die Bedeutung von Empfindungen in Stellung gebracht. Die symbolischen Orte dieser Zeit finden sich vor allem im Wald. Sie kennen das beispielsweise aus den Bildern von Caspar David Friedrich: Felsen und Wälder im Nebel, Klosterruinen usw. Im Grimm, dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (beide waren übrigens ausgewiesene Romantiker), ist das so zusammengefasst:
„Besonders waren die Romantiker für die Reize und die Poesie des Waldes empfänglich und haben allen Stimmungen, die der Wald im deutschen Gemüt hervorruft, Ausdruck gegeben; von den Pflanzennamen abgesehen, tritt die große Masse der Zusammen-setzungen mit Wald- und Waldes- erst in der romantischen Dichtung auf.“
Die romantische Wald-Begeisterung war ein urban-elitäres Phänomen: die solchermaßen ergriffenen Intellektuellen – die Schriftsteller, Maler und Komponisten jener Zeit – lebten durchweg in den Städten. Einige wenige Beispiele: Caspar David Friedrich: Greifswald und Dresden; Ludwig Richter: Dresden; Johannes Brahms: Hamburg, Detmold, Wien; Richard Wagner: Leipzig, Dresden, Zürich, Bayreuth; Franz Schubert: Wien; E. T. A. Hoffmann: Königsberg, Berlin; die Brüder Grimm: Kassel, Göttingen, Berlin; Wilhelm Hauff: Stuttgart; Ludwig Tieck: Berlin. Die „Waldeinsamkeit“ (ein Schlagwort der Zeit), von der die Romantiker schwärmten, war für die meisten Bauern vor 200 Jahren nichts erholsames oder gar heimeliges. Der Wald war für sie eher ein unwirtlicher Ort, wo wilde Tiere und böse Geister zu Hause waren, wo sich der Mensch aber nicht gerne aufhielt. Für die waldnah lebenden Dorfbewohner war der Wald ein Nutzungsraum: ein Ort zur Holzbeschaffung, zur Imkerei, zum Beerensammeln usw.
Und hier sind wir wieder bei Kerns Bildern, die uns ja vordergründig genau über die Waldnutzung informieren. Tobias D. Kern hat bei der Ausarbeitung seiner traditionell auf Film aufgenommenen Bilder in der Dunkelkammer zwar Akzente gesetzt hinsichtlich der Hell-Dunkel-Kontraste. Dennoch sind seine Bilder offen gestaltet und verweigern eine eindeutige Aussage. Lassen wir uns ein auf ein intensives Betrachten, werden wir daher belohnt mit einem beinahe meditativen Erlebnis; vielleicht sogar mit dem Antrieb, mal wieder selbst den Wald zu besuchen.