Photogene Stammplätze – die letzten ihrer Art
In Wuppertal kursierte Anfang der 2000er-Jahre das Gerücht von der baldigen Schließung des Café Schulte. Tobias D. Kern, regelmäßiger Gast und Kuchenkäufer in der Heusnerstraße, wurde nachdenklich. Diese Geschäftsaufgabe würde nicht nur Stammkunden traurig stimmen und in einschlägigen Statistiken ihre Spuren hinterlassen. Mit dieser Schließung würde wieder etwas verloren gehen, was gefühlt immer schon da war – aber nicht wieder kommen würde. So wurde die angekündigte Aufgabe des Café Schulte in Wuppertal der Triggerpunkt für das in diesem Katalog präsentierte Photoprojekt von Tobias D. Kern und seiner damaligen Photoassistentin Barbara Kerbusk, die Gasträume von Konditorei-Cafés zu dokumentieren, die seit der Nachkriegszeit möglichst unverändert bestehen.
Tobias D. Kern ist nicht interessiert am Café als Sehnsuchtsort, er photographiert nicht die Grand-Cafés wie das Odeon in Zürich, das Café du Dôme in Paris oder die Wiener Kaffeehäuser. Er visualisiert nicht Stimmungen und Gefühle, er dokumentiert vielmehr einen Ausschnitt bundesdeutscher Alltagsgeschichte. Die hier vorgestellten inhabergeführten Konditorei-Tagescafés sind keine Orte der Bohème, hier entsteht keine Weltliteratur, hier verkehren keine Revolutionäre – in diesen Cafés manifestiert sich der bundesdeutsche Zeitgeist der 1950er- bis 1960er-Jahre. Einige Stichworte genügen, um zumindest in den bundesrepublikanisch sozialisierten Lesern entsprechende Assoziationen zu wecken: Adenauer und Ulbricht; Wiedergutmachung und Wiederbewaffnung; Erhard und die Soziale Marktwirtschaft; Olympiade in Helsinki und Fußball in Bern; Caterina Valente und Rudi Schuricke; die Vespa und der Käfer; Tütenlampe, Nierentisch und Cocktailsessel sowie Sputnik und der Kalte Krieg; Mauerbau und Kennedy; Studentenproteste, Woodstock und Willy Brandt. Und vor allem: keine Angst vor Kalorien.
Jedoch, die fetten Jahre sind vorbei. Diesen Cafés liegt ein Geschäftsmodell zugrunde, das eindeutig aus einer anderen Zeit stammt. Wie in Handwerksbetrieben oft üblich, ist die Mitarbeit der ganzen Familie notwendig. Das Angebot der nur tagsüber geöffneten Cafés ist beschränkt auf Torten, Kuchen und Kaffee; Bäckereiwaren, Snacks oder über eine moderne Kaffeemaschine hinausgehende Zugeständnisse an den an Starbucks & Co. orientierten Zeitgeschmack sucht man hier vergebens. Die Raumgestaltung und die
Einrichtung wurden im Laufe der Zeit höchstens punktuell den Erfordernissen angepasst. Diese Cafés sind sozial verankert in der Nachbarschaft (die Einrichtungen an beliebten Ausflugszielen mögen in dieser Hinsicht eine Ausnahme sein). Eine persönliche Beziehung zum Kunden ist erwünscht und wird gefördert; das Bedürfnis nach einem Stammplatz wird respektiert. Der Inhaber versucht nicht, den Umsatz pro Platz zu maximieren und die Verweildauer seiner Gäste möglichst kurz zu halten.
Tobias D. Kern gibt uns Einblicke in die Backstuben. Der versehentlich dazwischen gehängte Konditor von August Sander aus dem Jahre 1928 würde in diesem Kontext nicht weiter auffallen: die gleiche Rührschüssel, der gleiche Rührbesen, die gleiche Arbeitskleidung wie auf Kerns Bildern. Eindrücklich werden wir darauf hingewiesen, dass die in diesen Cafés servierten Torten Produkte traditioneller Handwerksarbeit sind. Man reibt sich verwundert die Augen: geht das denn noch? Wohl eher nicht. So sehr ich Wolfgang Raths den Bestand seines Café Kramer in Euskirchen wünsche, die Stammgäste sind selbst in einem solchen Etablissement nicht wirklich sicher vor dem plötzlichen Wandel. Diese Cafés werden nach und nach aufgegeben, spätestens, wenn der Generationswechsel anstünde. Oder das Geschäftsmodell wird angepasst – mit der Folge, dass der ursprüngliche Charakter verloren geht. Das sind leise Abschiede, unauffällig wie der bisherige Betrieb.
Als Liebhaber authentischer 1950er-/1960er-Jahre- Architektur spürte Tobias D. Kern den Drang, zum Ende einer Epoche diese prototypisch zu dokumentieren und die letzten Cafés dieses Stils zu photographieren. Ihn interessierte zunächst nur das Interieur, ihm schwebte vor, das Vergleichbare der im Detail doch sehr unterschiedlichen Räume photographisch herauszuarbeiten. Im Ansatz schimmert hier das Konzept von Hilla und Bernd Becher durch, die von Tobias D. Kern auch klar als Vorbilder benannt werden. Photos aus Gasträumen von drei Cafés aus den Vorstudien konnte ich 2002 in einer kleinen Ausstellung anlässlich von „INNENarchitektur Offen“, dem Tag der Innenarchitektur in Bonn sehen. Seitdem verfolge ich das Vorhaben mit großem Interesse.
2006 brachte eine Förderung durch das Kulturwerk der VG Bild-Kunst Schwung in das Projekt, so dass 2008 eine umfangreiche Café-Schau in Köln im Rahmen der 19. Internationalen Photoszene Köln gezeigt werden konnte. Das erscheint rückblickend als eine Art Zwischenbericht, da die Arbeit für Tobias D. Kern auch zwei Jahre danach noch nicht abgeschlossen ist: Wenn er weitere Cafés findet, wird er diese nach Möglichkeit dokumentieren. Die umfangreiche Ausstellung im Sommer 2010 ist mit etwa 125 Bildern aus 15 Cafés die bislang umfangreichste, zudem die erste mit Katalog.
Der Rechercheaufwand um geeignete Motive zu finden ist hoch, zumal die zuständigen Kammern und Innungen dem Projekt nichts abgewinnen können; es ist ihnen zu rückwärtsgewandt. Auch ist es häufig nicht einfach, die Besitzer der Cafés zur Mitarbeit zu bewegen. Sie glauben nicht, dass ein solch aufwendiges Projekt frei von kommerziellen Interessen ist oder scheuen die Störung ihres Tagesablaufs. Vielleicht spielt auch das in den letzten Jahren zu beobachtende generelle Misstrauen gegenüber Photographen eine Rolle.
Neben ihrer Arbeit als Photoassistentin betrieb Barbara Kerbusk die aufwendige Suche nach geeigneten Cafés und führte die zuweilen mühseligen Erstgespräche mit den Besitzern. Die wenigsten waren spontan bereit, sich photographieren zu lassen – oft musste die gelernte Sozialarbeiterin mit viel Geduld Überzeugungsarbeit leisten, um schließlich einen ersten Phototermin zu vereinbaren. Ebenso übernahm sie die schriftliche Projekt-Dokumentation und führte ergänzend Interviews mit den Konditoren.
Daneben brachte Barbara Kerbusk auch gestalterische Ideen ein. Sie regte an, nicht nur den Gastraum aufzunehmen, sondern zusätzlich Photos der Fassade, der Backstube, der Hausspezialität sowie Porträts der Besitzer anzufertigen. Die fachlichen Herausforderungen für den Photographen wurden damit vielgestaltig. Er verlässt sein angestammtes Fach der Architekturphotographie und wildert quer durch die photographischen Genres Architektur/Interieur, Food und Porträt.
Auffällig ist die Konsequenz, mit der Tobias D. Kern die Menschen aus seinen Bildern fernhält. Doch sobald wir Betrachter andere Menschen in Bildern erkennen, fokussieren wir stark auf jene: wir achten darauf, wie sie gekleidet sind, welche Frisuren sie haben und auf andere zeitbezogene Hinweise. Der Raum, in dem sich die Personen aufhalten, tritt in den Hintergrund. Tobias D. Kern wirkt diesem Effekt entgegen, indem er in der Tradition der neusachlichen Architekturphotographie bewusst auf die Einbeziehung der Café-Gäste in seine Aufnahmen verzichtet.
Photographie kann die Wirklichkeit nicht objektiv abbilden. Sie ist immer subjektiv. Das ist nach bald 200 Jahren Erfahrung mit dieser Technik Allgemeingut. Der Wechsel des Blicks von der Welt auf die davon angefertigten Bilder und wieder zurück auf die Welt, ändert sowohl die Wahrnehmung der Bilder als auch die der Welt. Der engagierte Dokumentarphotograph nutzt diese Wechselwirkung und macht Dinge sichtbar, indem er den für ihn wichtigen Ausschnitt der komplexen Welt auf ein Bild reduziert. Wir sehen Tobias D. Kerns betont sachlich gehaltene Bilder und entdecken plötzlich eine Welt, die die meisten von uns bisher eher gestreift haben. Diese Cafés waren da, wir haben uns in solchen oder ähnlichen Räumen aufgehalten. Doch erst diese Photos weisen uns darauf hin, welcher Schatz hier langsam – aber unwiederbringlich – verloren geht.
Tobias D. Kern tut sein Möglichstes, unser Vertrauen in die Echtheit seiner Bilder zu wecken. Dabei ist klar, dass die Festlegung auf ein Konzept und einen photographischen Stil sowie die Auswahl der Materialien (Kamera, Objektiv, Film, Papier, Entwickler, Toner) starke Faktoren für das Bildergebnis sind. Für den Photographen gab es schon in der Vorbereitungsphase vor über zehn Jahren keinen Zweifel, dass er seine Café-Serie schwarzweiß und mit der Großformat-Kamera umsetzen würde. Für die Porträts wählte er wegen der kürzeren Belichtungszeiten gelegentlich das Mittelformat.
In seinen freien Arbeiten vertritt Tobias D. Kern die Idee des Kamerabildes. Für ihn ist es wichtig, alle bildrelevanten Parameter vor der Aufnahme festzulegen. Der Übergang vom Negativ zum Positiv ist für ihn dann im Wesentlichen ein technischer Vorgang, bei dem lediglich die Unzulänglichkeiten des Materials ausgeglichen werden.
Der Photograph arbeitet für diese Serie in der Tradition seines Handwerks von der Aufnahme der Negative bis zur Ausarbeitung der Vergrößerungen in der Dunkelkammer rein analog. Als Bildbearbeitung reicht ihm die Kontraststeuerung während der Negativentwicklung sowie durch Abhalten und Nachbelichten während des Vergrößerns und das abschließende Tonen. Seine Photographien benötigen keine Retuschen, Composings oder was die Trickkiste noch so alles hergibt.
Es wäre ein Verlust für die Öffentlichkeit, wenn die Ergebnisse dieses engagierten Projekts in den Schubladen des Photographen verschwinden würden. Die gestalterischen und fachlichen Qualitäten dieser Bilder stehen außer Frage, die Ausarbeitung der Prints nach allen Regeln der Kunst garantiert eine archivgerechte Haltbarkeit. Tobias D. Kerns Kaffeehaus-Serie hat zudem einen deutlichen kulturanthropologischen Aspekt. Ich wünsche mir, dass eine einschlägige Institution diesen Wert erkennt und den Photographen in seinem Vorhaben unterstützt – beispielsweise durch einen Ankauf. Die öffentliche Zugänglichkeit dieser Zeitdokumente könnte damit langfristig garantiert werden.
© Martin Frech, 2010